Fetisch

Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ heißt vielversprechend Karl Marx vierter Abschnitt im ersten Kapitel vom „Kapital“. Schon 1842 hatte er in der Rheinischen Zeitung über die „Wilden von Kuba“ geschrieben, die Gold für den Fetisch der Spanier hielten, es feierten, tanzten und sangen und es dann ins Meer warfen, um es zu loszuwerden. Für Karl ist Fetisch ist  eine Metapher, um das Wesen von der Erscheinung der Dinge zu trennen. Er unterscheidet den Warenfetisch vom Kapital betreffenden Fetischismus. Den sieht er darin, dass das Kapital scheinbar aus sich selbst heraus Mehrwert erzeugen kann, auf die Spitze getrieben mit Zinsen.[1]  In den Dingen selbst unterscheidet er deren Gebrauchswert und den Tauschwert als Handelsware. Das welterschütternde Werk, von dem er selbst sagte, dass es ihm nicht einmal das Geld für die Zigarren einbringen werde, die er für das Verfassen benötigte, entstand in der Bibliothek des topmodernen Britischen Museums. Unter der Glaskuppel des Lesesaals sind Beschreibungen aus allen Weltteilen des britischen Empire versammelt. Karl kennt den Fetischbegriff nicht sexualisiert, sondern bezieht sich auf die frisch erforschten afrikanischen Religionen. Er behält den Doppelsinn von zauberisch und künstlich hergestellt im Fetischbegriff „die gesellschaftlich erzeugten Produkte fecotii werden zu [Fetischen) dadurch, dass an ihnen das artifizielle und profane getätigt ist. Sie zeigen den Schein der Selbstständigkeit, etwas naturhaftes und außermenschliches, worin weder der Einzelne noch die Gesellschaft sich wieder zu erkennen vermag. Die in die Dinge invertierte Macht scheint als die Macht der Dinge zurück“. Auch seine Begriffe Tauschwert oder Zins existieren nur in unserer Vorstellung. Macht und Herrschaftsverhältnisse stecken also in den Dingen. Aus Karls Sicht des 19. Jahrhunderts ist das Ding, wenn es niemand kauft, noch ohne ökonomischen Wert. Die Industrieproduktion  kommt erst in Gang – ein Überfluss an Dingen  und die Vermüllung in heutigem Ausmaße sind noch nicht vorstellbar. Erfolgt die Wertbildung noch immer auf dem Markt – nicht durch unsere eigene Entscheidung? Jedes einzelne Mal?

Wichtig ist außerdem Karl Marx‘ Entfremdungskonzept: das Produkt ist entfernt vom Produzenten, der nur noch winzige Arbeitsschritte erledigt und der Arbeitsprozess entfernt sich, weil man keine Übersicht über den Gesamtvorgang hat. Inzwischen entfremdet sich der Produzent auch digital. Wenn ich online Highheels bestelle, sehe ich eine Marke, aber nicht die philippinischen Arbeiterinnen. Und wenn ich sie zurücksende, ahne ich nicht, dass das bisher bedeuten konnte, dass sie direkt in den Abfall gelangen. Der Warenwert ist noch stärker vom Preis abgekoppelt, und 6-j.jpgbestimmte Markenartikel sind Kult. Dinge werden stärker politisch wahrgenommen, wenn auch nicht so, wie Karl sich das vorstellte. Das Verbrennen oder auch nur Beschmutzen einer Fahne kann in bösen Zeiten am falschen Ort einen Krieg auslösen. Das Informationszeitalter hat unser Fetischverständnis erweitert und verkompliziert. Dieses ‚Ganze‘, den Super-Signifikanten, die universale Theorie gibt es nicht.[2] schreibt der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme. Unser Fetischismus ist genetisch multikausal, typologisch und phänomenologisch unendlich. Hartmut beweist, dass wir weniger aufgeklärt sind, als wir denken. Rational ist Fetischismus nicht beizukommen. Möglich ist nur, die magische Bezauberung zeiträumlich einzugrenzen, zu reflektieren und okkasionell zu handhaben; andernfalls konfundieren das Reale, das Symbolische und das Imaginäre, und wir verlieren uns im Irrgarten der Lüste und Süchte.

Eine Kernfrage beim Ringen mit Dingen ist, ob die Dinge uns dienen oder uns als Diener haben. Unsere Vorfahren waren von der Macht der Dinge überzeugt. Mit der Massenproduktion, nach Hartmut mit der Moderne, haben wir die Dinge distanziert, „zurückgestellt“ dorthin, wohin sie gehören: in die Ketten einer Kausalität, die nichts „sagt“, nichts „bedeutet“, sondern klipp und klar die kalkulierbare und von uns steuerbare Prozessfolge natürlicher Vorkommnisse darstellt. Wenn wir den Dingen diese Macht nehmen, entfremden wir uns auch von ihnen. Es bedarf einer milliardenschweren Werbeindustrie, um dieses Gefühl zu unterdrücken. Und einer politischen Agenda, die uns als Konsumenten für den Fortbestand von Arbeitskräften, Steueraufkommen und Bruttosozialprodukt verantwortlich macht. Auch wenn wir alle wissen, dass fernöstlich dafür unter Bedingungen gearbeitet wird, wie sie Karl im Frühkapitalismus erlebt hat. Auch wenn wir nachlesen können, wer seine Profite nicht einmal versteuert. Wenn uns klar ist, dass Lackschuhe Weichmacher enthalten, die für uns schädlich sind, wenn sie geleckt oder getragen werden. Dennoch gibt es dieses Bild von Sexiness im Kopf, die sich durch das Objekt übertragen lässt. Selbstverständlich dienen uns die Dinge, und andererseits haben wir uns abhängig gemacht. Unser Fetisch hat eine Ko-Evolution erlebt und sich dabei prächtig vermehrt. Kaufsucht, Kaufrausch, Kleptomanie, Sammlerleidenschaft…  


[1] „Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr. Das gesellschaftliche Verhältnis ist vollendet als Verhältnis eines Dings, des Geldes, zu sich selbst. Statt der wirklichen Verwandlung von Geld in Kapital zeigt sich hier nur ihre inhaltlose Form.“ in  Das Kapital Bd. 3, Karl Marx, MEW 25 S.405

[2] Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne Hartmut Böhme:, Rowohlt 2006. S.448