Divergenzrotation

„Divergenzrotation“ Stahl, 113 x 74 x 11 cm, 2012

Ein Werk, bei dem die Lust an der Umnutzung des bereits gebrauchten Materials mit einer eigenwilligen interaktiven bildlichen Erzählung zusammentrifft, ist die „Divergenzrotation“ Polyhymnia. Eine berühmte Antikenfigur wurde im 18. und 19. Jahrhundert im Geschmack des französische Barock oder C.D. Rauchs Klassizismus jeweils anders ergänzt, und später kennt man auch den passenden Kopf des antiken Originals. Verwirrend verschiedene Versionen der aufgelehnten Muse „Polyhymnia“ finden sich in vielen Parks und Museen. Diese in einem Werk gegenüberzustellen und den Betrachter wählen zu lassen ist das Anliegen der Skulptur.
Das fragmentarische Arbeiten wird durch die aus der Streetart entwickelte Schablonentechnik begünstigt, daher entstanden zwei weitere Fassungen des Themas 2023 und 2019, Tafelbilder auf Stahl.
Der Name der Muse Polyhymnia, die für „viele Lobgesänge“ zuständig sein sollte, assoziiert selbst verschiedenen Auffassungen.

Text zur Muse aus „Der Anspruch der Dinge“:

Vergleichbar mit der Bekanntheit der Grabkammer Tutanchamuns gab es auch im 18. Jahrhundert einen rätselhaften Sensationsfund. 1729 bei Ausgrabungen in der römischen Villa der Julii Aspri an der Via Latia, von Roms Zentrum eine Stunde Ritt nach Süden, werden nacheinander fünf antike Statuen gefunden. Eine schöner als die andere. Das erkennt jeder, obwohl sie in schlimmem Zustand sind, die Köpfe und Arme fehlen. Besonders ein auf einen Felsen gelehnter Torso, lässig und doch elegant, bewegt die Gemüter. Ein Kardinal hat die Grabung beauftragt, Melchior de Polignac, Erzbischof von Auch in der Gascogne, Dr. der Theologie und Botschafter in Rom. Papst Benedikt XIII. übertrug ihm die Diakonie Santa Maria in Portico, einer Kirche in den Ruinen der Diokletiansthermen. Kunstvoll gefältelte Mäntel umhüllen die antiken Figuren, hier sieht er mal nichts, was Anstoß erregen könnte. Eine der kopflosen Schönheiten jedoch zeigt im zart flatternden Gewande eine irritierende Auswölbung im Schritt. Nun ist der Kardinal nicht umsonst Mitglied der Académie française, Mäzen und Kunstförderer. Man diskutiert vier oder fünf Jährchen über die Ausdeutung und entscheidet für einen Star der Antike: Achilles. Von dem berühmtesten aller Kriegshelden berichten mehrere Dichter der griechischen Mythologie, dass er den Trojanischen Krieg eigentlich lieber aussitzen wollte, oder die Familie wollte ihn nicht gehen lassen… Jedenfalls zog er zum Vater seiner Braut Deidameia, um nicht von Odysseus rekrutiert zu werden. Als dieser anreiste, steckte man den damals wohl noch zarten Jüngling in ein Kleid und mischte ihn unter seine Schwägerinnen, die Töchter des Lykomedes. Odysseus, der Listenreiche, ließ modische Accessoires aufbauen und stellte daneben auch die neuesten Waffenmodelle. Achilles konnte sich nicht beherrschen und wurde enttarnt, berühmt und fiel vor Troja.

Die Geschichte war eine gute Erklärung des delikaten verschütteten Memefaktes. Lambert Sigisbert Adam war gerade das bekannteste Talent vor Ort, ein Bildhauerstipendiat, der vom Kardinal Aufträge erhielt. Nun wird aber nicht rekonstruiert, obwohl antike Vorbilder in Rom genügend zur Verfügung stehen. Zur besseren Verbreitung des Memes und zum Ruhme des Kardinals bekommt der Chiton dieser „autra fille de Lycoméde“ á la mode: Puffärmel. Lambert Sigisbert gestaltet die eindrucksvollste Ansicht als Schauseite, so dass der Kopf zur rechten Schulter blickt. Mit Haarknoten und Diadem, ganz Barock. Die „Deidamea“ gilt nun als griechisches Werk ersten Ranges und reist mit Melchior de Polignac nach Paris. Nach dem Tod des Kardinals kommt seine Sammlung auf den Markt, mehr als 300 Antiken erwirbt der junge Preußenkönig Friedrich, seinerzeit noch nicht der „Große“ und schon gar nicht der „Alte Fritz“. Er hat gerade den ersten Schlesischen Krieg gewonnen und baut und philosophiert. Voltaire widmet ihm schmeichelnde Verse[2]:

All diese Büsten wollen Ihnen sagen schon
was taten wir in Rom in mitten von Ruinen
der Schönen Künste, des Imperiums,…
Lasst lieber uns bleiben im Palaste hier, dem Tempel des Genies;
bei einem König, der ein wahrer König ist
sei unser Aufenthalt,
Rom ist heilig nur und alles weitere bei ihm. Voltaire, 2. Oktober 1742

Nicht alle werden den Abschied der berühmten Schönheiten aus Paris so freundlich kommentiert haben. Napoleon Bonaparte holt sie später als Kriegsbeute „zurück“. Als Paradestücke des „Musée Napoleon“ werden sie noch häufiger kopiert und gezeichnet, es gibt eine Porzellanedition von Sèvre. Dann reisen die Skulpturen wieder nach Preußen und Napoleon nach St. Helena. In Berlin möchte man nach den Freiheitskriegen die Kunst nicht mehr nur exklusiv beim König sehen, sondern öffentlich ausstellen. Karl Friedrich Schinkel entwirft das heutige „Alte Museum“ auf der Berliner Museumsinsel. Und wieder inspiriert die „Aufgelehnte Figur“ mehrjährige Debatten. Sie ist inzwischen als Muse Polyhymnia mit Apoll im Sängerkleide erkannt, denn das Motiv war schon im antiken Rom häufig kopiert und zitiert worden. Philiskos aus Rhodos gilt als eigentlicher Schöpfer, dessen Originale um 140 v.Chr. datiert werden. Die barocken französischen Ergänzungen waren auf jeden Fall falsch,- und altmodisch.

Christian Daniel Rauch ist nun der Starbildhauer Preußens, auch ein Romstipendiat und Verehrer der Antike. Er kennt die Reliefs vom Kapitol und in der Villa Borghese zum Thema, da blickt der Musenkopf nach vorn und man sieht einen ungewöhnlichen Pferdeschwanz. Eine antike Kopie des Polyhymnia -Kopfs gibt es in Dresden, auch mit Zopf. Aber eine weitere Kopie ist keine Aufgabe für einen Starbildhauer. Es gibt auch ja auch antike Polyhymnien mit Kranz, und das passt besser zum klassizistischen Zeitgeschmack. Er gestaltet seine Ergänzungen 1829 wieder mit Blick zur Seite, verzichtet auf den Pferdeschwanz und setzt der Muse einen zierlichen Windenkranz auf die Locken. Und dann gibt es wieder eine Flut von Kopien in allen möglichen Größen und Materialien.
In der „Divergenzrotation“ kann man alle Köpfe ausprobieren, inklusive meiner eigenen Muse PJ Harvey.